Neue Organisation der HS Esslingen

Der Senat der Hochschule Esslingen hat in seiner Sitzung vom 18.8.2020 eine neue Grundordnung verabschiedet. Diese beinhaltet ein neues Strukturmodell: So wird sich die Hochschule künftig in einer Matrix-Struktur mit sechs Fakultäten und fünf Querschnittsfunktionen organisieren. Der Grund für die Neuorganisation: Die Hochschule Esslingen möchte sich an aktuelle Marktanforderungen anpassen, ihre Studienangebote weiterentwickeln und ihre Spitzenposition sichern.

Das Interview mit Prof. Christof Wolfmaier, Rektor der Hochschule Esslingen, führte R. Beyer v. Remis

Gewissermaßen über Nacht musste sich die Esslinger Hochschule im vergangenen Sommersemester pandemiebedingt ausschließlich auf digitale Lehrformate umstellen. Die Corona-Pandemie hat die Welt weiterhin im Griff. Wie wird der Studienalltag im kommenden Wintersemester aussehen?

Prof. Wolfmaier: Wir planen, das am 12. Oktober beginnende Wintersemester in Präsenz, wissen aber, dass wir große Veranstaltungen nicht in Präsenz abhalten werden können. Die Vorlesungen. finden deshalb mit einigen Ausnahmen hauptsächlich wieder online statt. Wir streben aber an, die ersten und zweiten Semester etwas dichter in den Präsenzvorlesungsbetrieb zu holen. Wir haben bei den letzten Prüfungen im letzten Semester gesehen, wie die Studienanfänger, die aus einem verschulten System kommen und an einer Hochschule mit ganz anderen Lehr- und Lernbedingungen konfrontiert sind, auf den Fluren und dem Campus als arme Tröpfe orientierungslos umhergeirrt sind. Dem wollen wir mit Präsenzvorlesungen für die ersten beiden Semester entgegentreten, soweit es die Corona-Verordnung des Landes zulässt. Das heißt, wir brauchen für jede Veranstaltung ein Hygiene-Konzept. Wir müssen die Abstandsregeln einhalten, wir haben auf den Fluren Maskenpflicht und wir erwarten mit Spannung ein neues Release der Landesverordnung, nach der wir uns ausrichten werden. Die eigentliche Lehre ab Semester 3 wird im Wesentlichen über IT-Systeme digital erfolgen, Prüfungen und Laborveranstaltungen können aber unter Einhaltung der Hygiene-Maßnahmen in kleineren Gruppen unter Präsenz stattfinden

Ende letzten Jahres hatten Sie ein gemeinsam mit den Dekaninnen und Dekanen erarbeitetes Strategiepapier vorgestellt, gemäß dem sich die Hochschule bis 2030 als herausragender Bildungsort und innovativer Impulsgeber für Technik, Wirtschaft und Soziales entwickeln soll. In seiner Sitzung am 18. August 2020 hat der Senat der Hochschule Esslingen nun eine neue Grundordnung verabschiedet. Deckt diese die damaligen Visionen ab?

Prof. Wolfmaier: Wir haben den Auftrag, die Hochschule mit seinen drei Standorten an der Spitze zu halten. Dazu sind gewisse Modernisierungsschritte einfach erforderlich. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen sind:
• Digitalisierung,
• Globalisierung,
• Transformation der Automobilindustrie,
• Demografie und Fachkräftemangel,
• Desinteresse an Technik,
• Mechatronik im Wandel
Bei der Digitalisierung, keine Frage, da hat Corona uns tüchtig Wind in den Rücken geblasen. Die Globalisierung wird sich verändern. Ja, wir werden das Rad nicht ganz zurückdrehen, aber es geht eher zurück als progressiv nach vorne.
Die Antriebstechnik in der Automobilentwicklung steht vor großen Herausforderungen. Den Verbrenner wird es weiterhin geben, Wasserstoff wird eine wichtige Alternative und wir sollten darauf achten, dass nicht alle verfügbaren Gelder ausschließlich in die Elektromobilität fließen. Die Automobilindustrie von der wir in der Region ja alle tüchtig abhängig sind, durchläuft eine Transformation, das Fahrzeug wird elektrischer.  
Die Industrie klagt regelmäßig über Fachkräftemangel, das wird auch rasch wiederkommen und das kann man ja eigentlich auch nur hoffen. Die Firmen die derzeit in wirtschaftlicher Not sind, kümmern sich im Augenblick weniger um Ausbildungsbelange, aber ich fürchte, sobald sich die Wirtschaft erholt, wird sich das rächen.
Was wir bei der Jugend identifizieren ist ein zunehmendes Desinteresse an der Technik. Auch das wird eine Aufgabe, der wir uns stellen wollen und im Besonderen jetzt für Göppingen, wo unser Leuchtturm der Mechatronik steht, darf man auch die Augen nicht verschließen, dass sich die Mechatronik selbst wandeln wird. Vor 30 Jahren hat der Mechaniker den Elektriker nicht verstanden und heute stehen wir eigentlich an einer neuen Trendwende, bei der der Mechatroniker den IT-ler nicht mehr versteht. Die Mechatronik-Kompetenz bleibt deshalb am Campus Göppingen in der Fakultät Wirtschaft und Technik erhalten. Die Inhalte des aktuellen Studiengangs Mechatronik werden auch künftig in Göppingen gelehrt – voraussichtlich als Studiengang Mechatronik/Cyber-physikalische Systeme. Auch der duale Studiengang MechatronikPlus verbleibt in Göppingen.

War ursprünglich nicht geplant, alle technischen Studiengänge am Standort Esslingen zusammenzufassen?

Prof. Wolfmaier: Das Rektorat muss die ganze Hochschule im Blick haben und darf keinen Standort vernachlässigen. Ein Hochschulstandort für ein Mittelzentrum wie Esslingen oder Göppingen stellt einen Wirtschaftsvorteil für die Industrie dar, der letzten Endes der Kommune Arbeitsplätze und damit Steuererträge bringt. Wir stehen da mit anderen Hochschulen für angewandte Wissenschaften der Region im Wettbewerb. Wenn wir in Göppingen Reformen anstreben, müssen wir beim Wettstreit um die klügsten Köpfe bei den Bewerberinnen und Bewerbern schauen, welche Hochschule ist in Reichweite. Die Hochschulen in Nürtingen, Geislingen, Ulm, Aalen und Reutlingen sind nicht weit weg. Worunter wir vor allem in Göppingen leiden, ist der Schwund der Studierenden auf Grund der demographischen Entwicklung. Die Wirtschaftsingenieure haben sich zur tragenden Säule am Standort Göppingen entwickelt. Damit können wir aber die vorhandenen Studienplätze in Göppingen nicht nachhaltig auslasten. Deshalb wollen wir zur weiteren Standortsicherung und auf Druck der lokalen Wirtschaft und der IHK-Bezirksversammlung in Göppingen auch in Zukunft einen Hardcore-Ingenieur-Studiengang in Göppingen anbieten. Die Mechatronik wird künftig software-lastiger. Wir wollen uns künftig über die Anwendung der Mechatronik vom Maschinenbau in Esslingen differenzieren und werfen daher in Göppingen künftig ein Auge auf die Medizintechnik. Die ist hier in Esslingen gar nicht vertreten.

Da wird es sicher dem einen oder anderen Studienanfänger, der Maschinenbau studieren will, die Entscheidung schwerfallen, an welchem Standdort er richtig aufgehoben ist

Prof. Wolfmaier: Die Jugend ist, was die Berufswelt betrifft, desinformiert und von der Vielfalt der Studienmöglichkeiten überfordert. Die Hochschullandschaft hat sich zum Teil zu fein ausdifferenziert. Wir wollen dafür ein Orientierungssemester auf Kiel legen, da sind wir schon ziemlich weit gediehen, obwohl Corona da etwas gebremst hat. Da die Hochschule drei wesentliche Disziplinen abdeckt, nämlich Technik, Wirtschaftliches und Soziales, möchten wir jungen Menschen ein Semester anbieten, in dem sie die Berufswelt kennenlernen. Wir wollen aus jeder Fakultät berichten und die Berufsbilder vorstellen, wir wollen mit den jungen Menschen Exkursionen machen in die Unternehmen, in Verbände, in Banken und in Wirtschaftsunternehmen. Und Teile der Vorlesungen sind anrechenbar, egal in welche Disziplin sie nachher gehen.
Ziel in Göppingen ist es, ca. 1000 Studierende in einer Fakultät mit einer vor Ort angesiedelten Leitung zu haben. Deshalb wollen wir in Göppingen zusätzlich auch ein neues Studienangebot aufbauen. Hierzu arbeitet die Fakultät gerade konkrete Studienkonzepte aus. Ein Studiengang „Digital Business Engineer“ befindet sich in enger Abstimmung mit lokalen Akteuren. Darüber hinaus gibt es Ansätze für ergänzende Lehrangebote zu den Themen Nachhaltigkeit und Wohnen. Das Wissenschaftsministerium hat zudem zwei Pool-Professuren für Umstrukturierungsmaßnahmen bewilligt. Diese wollen wir inhaltlich speziell für Göppingen einsetzen.

Was sind die Gründe für diese umfassende neue Organisationsstruktur der Hochschule Esslingen?

Prof. Wolfmaier: Die Hochschule Esslingen muss sich an aktuelle Marktanforderungen anpassen, ihre Studienangebote weiterentwickeln und ihre Spitzenposition sichern. Die neue Organisation ist eine große Chance für uns, weil sie Synergien schafft und dadurch Neuausrichtungen möglich macht. So können wir verstärkt gesellschaftlich relevante Themen in unserer Lehre aufgreifen. Wir beobachten, dass wir in den Rankings teilweise zurückgefallen sind. Wir müssen wieder wie früher auf Platz 1 oder 2 stehen, und das schaffen wir auch. Ich nehme wahr, wir haben ein sehr stark engagiertes Rektorat, wir haben hochkompetente Professorinnen und Professoren, aber wir leben in einer starren Struktur, die nicht mehr in die Zeit passt. Die neue Grundordnung, die wir mit 3/4 Mehrheit im Senat beschlossen haben, beinhaltet ein neues Strukturmodell: die Hochschule mit ihrer derzeitigen Linienorganisation in Form von 11 Fakultäten wird sich künftig in einer Matrixstruktur mit sechs Fakultäten und fünf Querschnittsfunktionen, nach Landeshochschulgesetzt sogenannten Zentralen Wissenschaftlichen Einrichtungen organisieren.

Dies ist allerdings ein langer Prozess. Die Überlegungen dazu habe ich schon begonnen, bevor ich im September 2019 das Amt als Rektor angetreten habe. Der größte Schritt ist die Überführung in eine Matrixorganisation. Nur Fakultäten zu reduzieren, war nicht das Ziel. Zwei Fakultäten waren vom Landeshochschulgesetz beispielsweise gar nicht mehr legitimiert, so die kleine Fakultät Graduate School mit gerade mal 6 Professuren und die Fakultät Grundlagen, die an unserer Hochschule eine ganz lange Tradition hat, aber nach dem Landes-Hochschulgesetz keine formale Grundlage mehr hat, weil sie keine alleinstehende Abschlüsse anbietet.

Die sechs neuen Fakultäten werden sich wie folgt organisieren:

  • Maschinen und Systeme
  • Mobilität und Technik
  • Angewandte Naturwissenschaften, Energie- und Gebäudetechnik
  • Informatik und Informationstechnik
  • Wirtschaft und Technik
  • Soziale Arbeit, Bildung und Pflege

Die Göppinger Studiengänge Elektrotechnik sowie Automatisierungstechnik und Produktionsinformatik sind inhaltlich sehr nahe an Angeboten in Esslingen. Diese werden sich innerhalb der dortigen Fakultäten in Esslingen weiterentwickeln.
Der Studiengang Mechatronik verbleibt in Göppingen und wird dort aufgewertet.
Die fünf Querschnittsfunktionen lauten: Digitalisierung, Forschung und Transfer, International Centre and Graduate School, Studieneingang und Grundstudium, Weiterbildung.
Die Digitalisierung zieht sich sowieso durch alle Disziplinen,
Forschung und Transfer ist ein klassischer Querschnitt und wird in einem Prorektorat gebündelt. Wir wollen uns auch weiterhin als Forschungs-orientierte und wissenschaftliche Hochschule auszeichnen und künftig vermehrt Forschungsaufträge und Fremdmittel einwerben.
Die Graduate School wird in den Querschnitt Internationales integriert, in dem wir auch das International Office einbinden, das sich um den Studierendenaustausch kümmert und mit unserem Fremdsprachenzentrum zusammengefasst wird.
Die seitherige Fakultät Grundlagen haben wir in eine Querschnittsorganisation überführt, die sich auch um den Studieneingang kümmert. Eine Hochschule hat nach Landeshochschulgesetz vier Aufgaben: Unser Kerngeschäft ist die Lehre, damit wollen wir uns auch von den Universitäten unterscheiden, da wollen wir exzellent sein. Dann aber auch Weiterbildung, Forschung und Transfer. Wir werden deshalb auch eine Weiterbildungs-GmbH gründen, voraussichtlich im Schulterschluss mit der Technischen Akademie Esslingen.

Wie sieht dann die konkrete Umsetzung aus?

Prof. Wolfmaier: Die Arbeit an der Hochschulstruktur wird in den kommenden Wochen fortgesetzt. Nach einer Zustimmung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst sind die Wahlen neuer Gremien für den Herbst 2020 geplant. Die neue Organisationsstruktur soll im Sommersemester 2021 starten. Ab dem Wintersemester 2021/22 sind die Anpassung und Umsetzung der aktualisierten Studienangebote vorgesehen.

Eine Antwort

  1. lurchi sagt:

    Ein guter Beitrag mit gelungenem Interview!

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