Ein letztes Mal Student sein – Rede zum Kandelmarsch 2019

Angetan mit Frack und Fliege und dem obligaten Krug,
ziehn‘ Studenten durch die Straßen, bilden einen Freudenzug,
aufgeschultert schwer und hölzern, gibt die Leiter sich‘ren Halt,
auf den Häuptern die Zylinder, Tradition so schön und alt.
Wer den Stall noch nie betreten, wer nicht jede Kneipe kennt,
wer nie Kandelmarsch gelaufen, war am Neckar nie Student!

so lautete das den Kandelmarsch treffend beschriebene  Gedicht, mit dem unser BB Fabian Hölzl seine nachfolgende Rede zum Kandelmarsch im Sommersemester 2019 zum Schluss krönte:

Liebe Absolventinnen und Absolventen, sehr geehrte Damen und Herren,
der Anfang ist die Hälfte des Ganzen – Als ich das erste Mal diese Hochschule betrat, da schlug mir eine Wucht an Stimmen entgegen und während ich mich mit unsicheren Schritten, den steinernen Handlauf entlang, in den ersten Stock vortastete, da überkam mich ein unbekanntes Gefühl. Neugierde, Ungewissheit, Stolz? Zufriedenheit oder Euphorie? So ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern, sicher ist jedoch, dass all jenes gepaart war mit einer ordentlichen Portion Nervosität.
Es war der erste Tag des Mathevorkurses und beim Betreten des Vorlesungssaales waren die meisten Plätze bereits besetzt. Ich ließ mich mit einem Nicken im hinteren Drittel auf einem Stuhl nieder, neben mir ein modisch gekleideter jungen Mann mit Hornbrille, der genau wie ich mit verstohlenen Blicken den Raum musterte.

Die Tür ging irgendwann zu, eine Frau brachte sich vor uns in Stellung und nach einer kurzen Begrüßung flogen bereits Terme und Variablen aus Kreide in beeindruckender Geschwindigkeit über die Tafel.  Innerhalb von zwei Wochen war der gesamte Stoff der vergangenen 13 Schuljahre durchgearbeitet und im ein oder anderen Gesicht stand schon jetzt die Verzweiflung geschrieben. Ich vermute nicht nur mir wurde in diesem Raum klar, dass wir alle nun tatsächlich im ersten Semester angekommen waren.
So wurden Klassenzimmer zu Hörsälen und Laboren, Mitschüler zu Kommilitonen, Fächer zu Vorlesungen. Essen gab es nicht mehr in der Kantine, sondern in der Mensa, unwichtiges wurde trivial und wer nicht kam, der hatte frei.
Während die größten Schwierigkeiten zu Beginn noch darin bestanden, den richtigen Hörsaal zu finden, oder stets die passenden Skripte parat zu haben, so wurden diese bald von Mathematik, Chemie, oder Werkstoffkunde verdrängt und das Hauptaugenmerk richtete sich darauf, den Anschluss nicht komplett zu verpassen.

Einen adäquaten Ausgleich zum Vorlesungsalltag findet der Esslinger Student in der stadteigenen Kneipenkultur. Nach so manch quälender Vorlesung eignet sich der beinahe campusintegrierte Biergarten des Karmeliters hervorragend für den Genuss der deutschen Braukunst. Die verkehrsgünstige Erreichbarkeit weiterer Lokalitäten oder der Maille zwingt den oder die Weiterziehenden zu notgedrungenen Zwischenstopps. Ein guter Kommilitone behauptete einst man könne in Esslingen keine 150 Meter durch die Innenstadt laufen, ohne an einer geöffneten Kneipe vorbeizukommen.
Kaum begonnen, schon neigt sich das Semester dem Ende zu, zumindest die Vorlesungszeit und ich erinnere mich an kaum eine Prüfungsphase so gut wie an die erste. Die im Studium gewonnene Freiheit erweist sich spätestens jetzt als Fluch und Segen. Natürlich viel zu spät realisiert man, dass es ja kaum noch vier Wochen bis zu den Klausuren sind, mit Eifer und Tatendrang werden Bücher ausgeliehen oder bestellt, Formelsammlungen angefertigt und Prüfungen der Vorsemester ausgedruckt. Die Tage werden länger, die Nächte kürzer und den ein oder anderen Abend zweifelt man an seinem eigenen Verstand.

Gemeinsam mit meinem Kommilitonen und seiner modischen Hornbrille verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer, wälzte Skripte und verbrauchte gefühlt tonnenweise kariertes Papier. Schon nach kurzer Zeit schworen wir uns, alles anders zu machen und schon viel früher zu lernen. Nächstes Semester wird alles besser! Zwei anstrengende Wochen später war es geschafft, alle Prüfungen waren geschrieben und die Semesterferien erreicht. Verdiente Erholung und Ruhe kehrten ein, zumindest solange, bis in der Studienganginternen Chatgruppe die erste Nachricht erscheint: „Mathe 1 ist online!“. Die kurz aufkommende Nervosität beim Einloggen in den Onlinenotenspiegel kennt jeder von uns hier bestens und ich muss zugeben, ich habe Sie bis zur letzen Note nie wirklich verloren.
Zwei Monate später sind die Leiden vergessen, alle Prüfungen bestanden und in dezimierter Anzahl treten wir das nächste Semester an. Bemerkenswerterweise scheint der Mensch das einzige Lebewesen zu sein, welches aus seinen Fehlern nicht lernt und keine drei Monate später schwöre ich mir erneut im folgenden Semester alles besser zu machen. So vergeht die Zeit rückblickend wie im Flug.

Kommilitonen werden zu guten Freunden, Erstsemester werden zu Tutoren, natürliche Zahlen werden komplex, das Grundstudium wird zum Hauptstudium, so mancher Professor zum Exmatrikulator, nicht nur Nullvektoren werden orientierungslos und wer zur Prüfung nicht erscheint, der hat geschoben.
Semester für Semester haben wir uns nach oben gearbeitet und als gelungene Abwechslung erscheint nach Abschluss des vierten Semesters das Praxissemester am Firmament. Selbstverständlich ist auch dieses mit Arbeit verbunden, aber als sechsmonatige Auszeit ohne Vorlesungen und Prüfungen, außer man gehört zur Gattung der chronischen Schieber, da kommt einem das fünfte Semester wie ein riesiger Meilenstein vor und das zurecht. Ergibt sich doch in dieser Zeit die Möglichkeit, das in der Theorie erlernte Wissen zum ersten mal in der Praxis anzuwenden und den Einblick in ein mögliches späteres Tätigkeitsfeld zu erhalten. Ich behaupte jeder von uns hat sein Praxissemester genossen, weiß man doch erst wirklich was man hatte, wenn man zum sechsten Semester an der Hochschule in die Realität zurückgeholt wird.

Für mich verging die Zeit jetzt gefühlt noch schneller, kaum ist man zurück am Stall, schon steht noch während dem Semester die Bewerbung für die Abschlussarbeit an. Ist der Vertrag dann unterschrieben studiert es sich tatsächlich leichter. Mit den verbliebenen Kommilitonen und Freunden kämpft man sich durch die restlichen Projektarbeiten und fiebert der letzten Prüfungsphase entgegen. Die letzte Formelsammlung anfertigen, noch ein letztes Mal den Studentenausweis vorzeigen, den allerletzten Prüfungsbogen ausfüllen. Eindeutig ein gutes Gefühl.
Das Schreiben der Abschlussarbeit gestaltet sich da schon etwas schwieriger. Zwischen Literaturrecherche, Schreibblockade und endlosscheinender Prokrastination entsteht im Abschlusssemester tatsächlich ein Konstrukt, welches so weit ausgearbeitet werden kann, dass es den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Arbeit genügt. Mit der Präsentation und dem Drucken der Arbeit besiegelt man seine Mühen letztendlich erfolgreich und kann, wie heute, nach Verleihung der Abschlusszeugnisse den wohlverdienten Titel tragen. Die letzte und finale Hürde ist gemeistert.

All diese Erfahrungen, Prüfungen, Semester, Freundschaften und Erinnerungen kann uns niemand mehr nehmen. Ganz gleich ob Technik, Wirtschaft oder Soziales unser Studienschwerpunkt ist, wir haben alle eines gemeinsam: dass wir angefangen haben. Denn schon der Anfang ist die Hälfte des Ganzen. Nur wer überhaupt beginnt die Leiter nach oben zu klettern kann letztendlich auf der obersten Sprosse ankommen.
Wir haben uns über Jahre Sprosse für Sprosse nach oben gearbeitet, haben viel investiert, Rückschläge in Kauf genommen, sind hingefallen und wieder aufgestanden, haben unsere Krone geradegerückt und tatkräftig weitergemacht.
Heute tragen wir diese erklommenen Sprossen unseres Studiums symbolisch mit unseren Leitern durch die Straßen der Stadt und können voller Stolz zeigen, was wir mit unserem Willen und Durchhaltevermögen erreicht haben.

Heute ist Kandidatenabfuhr in Esslingen. Wir tragen zwar keine Krone, aber einen Zylinder und vor jedem hier stehenden ziehe ich meinen Hut. Am Anfang waren wir alle Kandidaten, heute sind wir Absolventen.
Wir sind gemeinsam den gleichen Weg gegangen, und das tun wir auch heute. Hintereinander wollen wir marschieren, mit einem Fuß im Rinnstein, mit einem auf dem Bordstein, durch Esslingens Kandeln. Quasi zwischen Studium und Berufsleben, ein letztes Mal Student sein.
Und morgen? Morgen werden Hörsäle zu Besprechungsräumen, Professoren zu Vorgesetzten, Prüfungen zu Terminfristen. Kommilitonen werden zu Bekannten, BaföG wir zum Gehalt und wer nicht kommt, der hat Urlaub. Oder wurde gefeuert.
Wenn ich daran denke, dann überkommt mich wieder dieses unbekannte Gefühl. Neugierde, Ungewissheit, Stolz? Zufriedenheit oder Euphorie? So ganz genau kann ich es nicht sagen, sicher ist jedoch, dass all jenes gepaart ist mit einer ordentlichen Portion Nervosität.

Aber warum jetzt schon zu viel an morgen denken, heute wollen wir feiern. Ein letztes Mal Student sein, ein letztes Mal die Herzen freier. Lasst uns ein letztes Mal Student sein in Esslingen, Lebewohl sagen und unsere Krüge in den Kneipen der Stadt mit unseren Freunden erheben.  Das Leben ohne Sorgen genießen, auf dass es nicht das Ende ist, sondern nur ein Schritt mit geschulterter Leiter über die Bordsteinkante auf der Suche nach der nächsten Stufe.

 

4 Antworten

  1. Mabo sagt:

    Hallo Hasselhoff,
    eine wirklich gelungene Rede, da kann ich BB Shaker nur zustimmen. Habe sie mit Freude gelesen, vor allem, weil da auch Erinnerungen an den eigenen Kandelmarsch vor 37 Jahren in einem wachwerden.
    Grüße aus Frankfurt
    Dein Mabo

  2. hasselhoff sagt:

    Vielen Dank! Es freut mich, dass die Rede so gut ankommt. Herzschlag, ein Lächeln, Mühen vergessen, alles aufs Beste bestellt. Ist genau wie mit dem Studium… 😉

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